Es war 1993 das verstörende Film-Ereignis des Jahres. „Nackt“ von Mike Leigh. Ein brillanter David Thewlis als zielloser Gossenphilosoph Johnny. Ein Blick in die Abgründe der englischen Klassengesellschaft in der Post-Thatcher-Ära – brutal, herzerweichend, berührend. Eine Wiederschau.
Eine dunkle Nebengasse in einer regennassen Nacht irgendwo in Manchester . Ein Mann im Mantel vergeht sich brutal an einer Frau in einer Ecke. Als er von ihr ablässt, läuft er los, weit weg, einfach weg, springt in ein Auto und braust los in Richtung London. So fängt er an, untermalt von der den ganzen Film durchziehenden brillanten monoton hämmernden Instrumentalmusik von Andrew Dickens, der Film, der 1993 in deutschen Qualitätskinos Furor machte: „Nackt“ von dem britischen Autorenfilmer Mike Leigh („Lügen und Geheimnisse“, „Vera Drake“), dem bekanntesten Vertreter des linken „New British cinema“. „Nackt“ ist ein düsteres tragikomisches Meisterwerk über die Verlorenheit und Bindungsunfähigkeit der Menschen in einer feindlichen Umgebung. Leigh erzählt von Johnny, einem intelligenten, zynischen Sokrates der Gosse, der auf der Straße lebt und auf der Suche nach einem warmen Schlafplatz die Menschen permanent bequatscht, amüsiert und irritiert, sie dabei in seinem wilden, durchweg für den Zuschauer auch sehr unterhaltsamen Nihilismus mit ihren Verschwörungstheorien und Lebenslügen konfrontiert. Der Film dreht sich allesamt um Menschen, die nicht mit ihrem Leben klarkommen, aber auf ihre Weise um Anerkennung kämpfen. Bei seiner Odyssee durch die englische Nacht bricht jenseits seines wortgewaltigen Viertelwissens immer wieder die rohe Gewalt aus Johnny heraus. Gerade auf die noch Schwächeren, die Drogenabhängigen, insbesondere auch auf Frauen richtet sich sein destruktiver Selbsthass.
Die Schlussszene eines verstörenden Filmes: Obwohl halb zu Tode geprügelt, flieht Johnny aus dem Schutzraum seiner Ex-Freundin wieder auf die Straße
Sittengemälde und Klassenherrschaft
Mike Leigh zeigt ein zutiefst pessimistisches, pechschwarzes Bild von einer Welt voller Gewalt und Menschen, die um ein sinnvolles Leben kämpfen, dabei aber immer wieder scheitern. Seine Figuren sind charakterlich überzeichnet, aber gerade durch ihr ungeschöntes Äußeres real und glaubhaft. Mike Leigh wäre kein prononcierter Linker, wenn seine deformierten Figuren nicht auch Ausformungen der kaputten sozialen Verhältnisse wären, als ihrer selbst entfremdeten Wesen in der kapitalistischen Klassengesellschaft der Post-Thatcher-Ära gezeichnet werden. So wird als zynischer Alter Ego Johnnys aus der dekadenten Oberschicht der bewusst überzeichnete Miethai Jeremy G. Smart eingeführt, dem die soziale Notlage seiner Mitmenschen herzlich egal ist und sie vielmehr zur eigenen Luststeigerung einsetzt.
Mit „Nackt“ gelang dem eigenbrötlerischen Mike Leigh der Durchbruch. Er gewann 1993 in Cannes den Regiepreis. Auch heute noch gleicht „Nackt“ einer düsteren cineastischen Vision einer Zukunft der Menschheit, in der sich jeder selbst am nächsten ist und autistische Egozentrik die menschliche Beziehungsfähigkeit zerstört . Dafür musste Mike Leigh auch das Internet noch nicht kennen. Der Film berührt und irritiert noch heute. Sehr stark.
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