Christoph Marx

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„Die Macht der Juden soll man nicht unterschätzen“

Konrad ADenauer

Konrad Adenauer, Gerhard Heisler, CC BY-SA 3.0 DE

Adenauer und die Juden: Konrad Adenauer gilt zurecht als Motor für die deutsch-israelische Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch blieb er christlichen antijüdischen Vorurteilen verhaftet. Antisemitische Ausfälle des Altbundeskanzlers sind überliefert, die von Journalisten verschwiegen wurden – aus Angst.

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Hört der geschichtsbewusste kritische Zuhörer heutzutage die Sätze am Ende des obigen Interviews (ab Minute 27), glaubt er zunächst, sich verhört zu haben. So plötzlich, unerwartet und für heutige Ohren so unverhüllt fallen die ressentimentgeladenen antijüdischen Äußerungen.

In dem Fernsehinterview mit dem legendären Journalisten Günter Gaus aus dem Jahr 1965 ist wie immer die Gesprächsatmosphäre ruhig und konzentriert. Ausgerechnet bei der Frage der Bedeutung einer deutsch-jüdischen Aussöhnung beginnt Adenauer über die „Judenfrage“ zu räsonieren. „Wir hatten den Juden so viel Unrecht getan, wir hatten solche Verbrechen an ihnen begangen, dass sie irgendwie gesühnt werden mussten oder wiedergutgemacht werden müssten, wenn wir überhaupt wieder Ansehen unter den Völkern  der Erde gewinnen wollen.“ Um dann als entscheidenden Punkt hinzuzufügen. “ Die Macht der Juden – auch heute noch, insbesondere in Amerika, – sollte man nicht unterschätzen, Und deshalb habe ich sehr bewusst und sehr überlegt, meine ganze Kraft, so gut es ging, eine Versöhnung herbeizuführen zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk.“ 

Die einschlägige Sprachfigur der Judenfrage und das unsägliche Narrativ von der großen Macht des internationalen Judentums: Hier feiert ein zentraler antisemitischer Topos der brauen Vergangenheit aus dem Mund des Altbundeskanzlers fröhliche Urstände. Ganz ruhig erklärt Adenauer, Deutschland müsse allein schon aus machtpolitischen Gründen sich mit den Juden versöhnen. Die Macht der Juden wäre – „auch heute noch“ ununterbrochen. Der junge Gaus hakt im Gespräch nicht nach. Auch ein Indiz, wie sehr diese antisemitischen Töne in den 1960er-Jahren noch wie selbstverständlich zum politischen Alltag gehörten.



Adenauer (l.) im Gespräch mit dem isralischen Staatspräsidenten Schasar (r.) in Jerusalem.

Adenauer (l.) im Gespräch mit dem isralischen Staatspräsidenten Schasar während seiner Israel-Reise 1966 in Jerusalem, Bundesarchiv, B 145 Bild-P092352 / CC BY-SA 3.0 DE

Dabei ist unbestritten, dass Adenauer politisch immer ein Freund Israels war und treibende Kraft hinter den finanziellen Wiedergutmachungsleistungen nach dem Krieg war. Bereits in den 1920er-Jahren war Adenauer als Kölner Oberbürgermeister eng mit der regionalen jüdischen Prominenz verbunden und Mitglied des „Pro-Palästina-Komitees“, das den Gedanken eines Staates für das jüdische Volk förderte.[1] Er war zu einer Zeit pro-zionistisch eingestellt, als eine solche Haltung noch exotisch und in keiner Weise politisch opportun war. Ohne das Engagement des Altbundeskanzlers wäre es 1952 nicht zu einem israelisch-deutschen Wiedergutmachungsabkommen gekommen, das sowieso auf wackliger rechtlicher Grundlage stand.  Für Adenauer war die Aussöhnung mit Israel zweifellos auch ein moralischer Akt. „Er wollte unbedingt eine Aussöhnung zwischen den Deutschen und ‚den Juden‘. Nicht aus Opportunismus, sondern aus tiefster Überzeugung.“[2]

Mit dem israelischen Staatsgründer Ben-Gurion verstand er sich gut, wenn es auch erst nach dem Rücktritt Adenauers als Bundeskanzler 1965 zu der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel kam. Als er 1966 nach Israel reiste, war die Weltpresse dabei. Öffentlich spricht er von „einer der ernsten und schönsten Augenblicke meines Lebens“ [3] . Von einer deutsch-israelischen Versöhnung will Adenauer bewusst nicht sprechen. Ben-Gurion kam auch zur Beerdigung Adenauers 1967, was zu damaliger Zeit alles andere als selbstverständlich war und großes Aufsehen erregte.

Und doch sind immer wieder Äußerungen überliefert, die einen latenten antisemitischen Unterton des bundesdeutschen Gründungskanzlers verraten. Es ist kein Geheimnis, dass Adenauer politisch mit allen Wassern gewaschen war.  Der anerkannte Adenauer-Spezialist und -bewunderer, der Politologe und Zeithistoriker Hans-Peter Schwarz bezeichnet ihn einmal als „kleinlich, rachsüchtig, starrsinnig, listig“ – Willy Brandt konnte in den Wahlkämpfen in den 1960er-Jahren ein Lied von der politischen Skrupellosigkeit „des Alten“ singen, wie er von Freund und Feind immer auch ein wenig ehrfürchtig genannt wurde.

Eklat bei Israel-Reise 1966

Doch dass er bewusst oder unbewusst mit antijüdischen Klischees spielen würde, liest sich so gut wie nie. Schwarz berichtet von einem Eklat bei Adenauers Israel-Besuch. Als er den Text des israelischen Ministerpräsidenten zur Tischrede vorher liest, ist Adenauer entsetzt und droht mit sofortiger Abreise. „Die Wiedergutmachung stellt nur eine symbolische Rückerstattung des blutigen Raubes dar. Es gibt keine Sühne für die Greuel“. Diese moralisch eigentlich selbstverständlichen Sätze waren Grund für den Unmut Adenauers. Er hielt sie für unannehmbar für einen Deutschen, was sich als kalte Interessenpolitik, vor allem aber als Emphatielosigkeit interpretieren ließ. [3](968). Trotz seiner unbestrittenen Freundschaft zu Israel blieb Adenauers Verhalten moralisch durchaus ambivalent.



„Mendés-France ist doch Jude“

Aber auch offen antijüdische Ausfälle sind dokumentiert, die Zeitgenossen damals zu vertuschen versuchten. So hat etwa der Historiker August H. Leugers-Scherzberg in einem Beitrag aus dem Jahr 2006 für theologie.geschichte [4] ein bemerkenswertes Gespräch Adenauer mit dem belgischen und luxemburgischen Außenministerium über den sozialistischen französischen Regierungschef Mendés-France aus dem Jahr 1954 rekonstruiert. Adenauer war zutiefst enttäuscht über das Scheitern der supranationalen Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und sah den Grund auch in seinem „jüdischen Wesen“, wie Wehner in einer Notiz festhielt: „Mendés-France ist ein Spieler ohne feste Konzeption. Sehen Sie mal: Mendés-France ist doch Jude. Wir haben Erfahrungen mit unseren deutschen Juden. Die haben alle einen nationalen Minderwertigkeitskomplex, den sie überkompensieren durch übersteigerten Nationalismus. Mendés-France will, wenn auf Kosten Europas und der Verteidigung Deutschland niedergehalten wird, in Frankreich als guter Patriot gelten.“

Der unstete Jude, als ewiger Wanderer zwischen den Nationen – Adenauer benutzt hier unverblümt klassische antijüdische Topoi. Seine Einstellung zu seinem Amtskollegen war also nicht nur politisch, sondern von einem antisemitischen Vorurteil bestimmt. Auch in Frankreich hatte sich der linke Politiker, der einer pronouciert linken Koalition aus Sozialisten und Linksgaullisten vorstand, mehr oder weniger offen antisemitischer Schmähungen zu erwehren. Den Spiegel-Journalisten, die das Gespräch mithörten, war die Tragweite der Adenauerschen Äußerungen durchaus bewusst. In dem SPIEGEL-Bericht war nur eine entschärfte, sozusagen zensierte Version des Gesprächs zu lesen. Man war ja vom „Alten“ viel gewohnt als Journalist: Die Warnungen vor einem gefährlichen Rückfall der Deutschen in den Nationalismus waren bekannt und Legion. Auch dass nur Adenauer in der Lage sei, den Nationalismus zu bändigen, war bekannt. Und dass er seine gegnerische Umgebung, im In- wie im Ausland, für beeinflusst durch die Sowjetunion sah, war für Journalisten damals wohl „kalter Kaffee“. Aber Antisemitismus war wohl dem SPIEGEL-Journalisten Rühl zu heikel. In dem Bericht sprach er von der auffallenden Freundlichkeit gegenüber dem französischen Staatsmann.



Waren Adenauers antisemitischen Ausfälle Kalkül?

Die kompromittierenden Äußerungen des Bundeskanzlers hat SPD-Politiker Wehner schriftlich festgehalten, aber nie veröffentlicht. Sie sind im Nachlass gefunden worden. Herbert Wehner ist nicht gerade für Rücksichtnahme bekannt. Warum hat Wehner diese scheinbare Steilvorlage des CDU-Patriarchen nicht angenommen und gezielt die Öffentlichkeit gesucht? Vieles spricht dafür, dass er sich von der Veröffentlichung keinen Erfolg, nicht einmal einen parteipolitischen erhoffte. Er hatte die wohl leider realistische Einschätzung, dass Mitte der fünfziger Jahre antisemitische Ausfälle des deutschen Regierungschefs keineswegs auf einhellige Empörung in der deutschen Öffentlichkeit gestoßen wären. Ein Skandal um die antijüdischen Bekundungen des Kanzlers Adenauer wäre wohl auch nicht im Sinne der SPD gewesen. Die Befürchtung war wohl eher, durch eine Veröffentlichung den auch nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus in Deutschland weiterhin latent vorhandenen Antisemitismus neu anzustacheln.

Eine eher populistische Anbiederung an das Wahlvolk sieht der renommierte Historiker Wolfssohn als Grund für die häufigen irritierenden antijüdischen Entgleisungen Adenauers. „Er wollte und konnte mit der US-jüdischen Keule seine Landsleute schrecken“[7]. Antisemitismus also als gezielte Waffe, um Gefolgschaft und Gehorsam gegenüber seiner proamerikanischen, proisraelischen und proeuropäischen Politik zu erzwungen? Dass Adenauer sehr misstrauisch gegenüber seinem eigenen Volk war, ist bekannt. Und er machte sich keine Illusionen: Nicht einmal 20 Jahren nach dem Ende des Krieges, nach der Katastrophe der Shoa war Deutschland von einer wirklich gesellschaftlichen Aufbereitung des Geschehenen noch weit entfernt. Und sicher ist: Adenauer war der perfekte Repräsentant dieser Gesellschaft, weil sein Sprachduktus und seine Vorurteile mehrheitsfähig waren. Dass er trotz alledem die Versöhnung der Deutschen mit Israel so entschlossen vorantrieb, ist und bleibt eine große Leistung – eines großen Deutschen. Trotz alledem.




[1] u.a. Konrad Adenauer: Israel und Judentum. Konrad-Adenauer-Stiftung. URL: http://www.konrad-adenauer.de/stichworte/aussenpolitik/israel-und-judentum/. Abrufdatum: 24.11.2016.
[2] Michael Wolfssohn, Wiedergutmachung oder Realpolitik – Eine Bilanz der Israelpolitik Adenauers in den fünfziger Jahren, in: Adenauer, Israel und Judentum, Rhöndorfer Gespräche Bd. 20, hg. von Hanns Jürgens Küsters, Bouvier: Bonn 2006, 210-226. Hier: 225.
[3] Hans-Peter Schwarz, Adenauer – Band 2, Der Staatsmann 1952-1967, dtv: München 1994, 966.
[4] Vgl. ebda, 968.
[5] August Hermann Leugers-Scherzberg, Adenauers geheim gehaltene Äußerungen im Londoner Claridge-Hotel oder der latente Antisemitismus des bundesdeutschen Gründungskanzlers, in: theologie.geschichte 1 (2006), S. 343-349.
[6]Vgl. „Etwas Eis, Gentlemen?“, in: DER SPIEGEL vom 6. Oktober 1954, S.6.
[7]Vgl. Michael Wolfssohn, Wiedergutmachung oder Realpolitik – Eine Bilanz der Israelpolitik Adenauers in den fünfziger Jahren, in: Adenauer, Israel und Judentum, Rhöndorfer Gespräche Bd. 20, hg. von Hanns Jürgens Küsters, Bouvier: Bonn 2006, 210-226. Hier: 224.

Der Münchner Christoph Marx ist Publizist und Lektor und lebt in Berlin. Er arbeitet als Autor und Redakteur für viele namhafte Verlage und veröffentlichte bzw. verantwortete inhaltlich zahlreiche Werke, v.a. zu historisch-politischen, gesellschaftlichen, sportlichen und kulturellen Themen.Referenzliste unter Autor und Redakteur/Lektor.

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2 Comments

  1. Veronika Freh

    19. April 2020 at 9:09

    Mit Bestimmtheit eine Auseinandersetzung für fortgeschrittene Interessenten in Sachen Politwissenschaft und jüngster Geschichte.
    Adenauer zählt zweifellos zu den bekanntesten und wohl auch populärsten Politikern seiner Zeit und ja, wohl zu Vieles an „Widersprüchen“ in und um sein Verhältnis würde unsereinen jahrelang vorenthalten und/oder verschwiegen.
    Tolle und sehr objektive Aufarbeitung, die der Gegenwart und Zukunft nur gut tun kann.*Vielen Dank !*

  2. Vitka Kempner

    10. Juni 2020 at 11:45

    Vielen Dank für diesen ausführlichen Artikel. Ich bin schon vor einigen Jahren auf den irritierenden Ausschnitt aus dem Gaus-Interview gestoßen (https://www.youtube.com/watch?v=SEkZqzlEDHI), jedoch fand sich dazu recht wenig tiefergehende Information.

    Dass dieser Aspekt der Person Adenauer bis heute so wenig journalistische Bearbeitung gefunden hat – von wissenschaftlicher ganz zu schweigen – ist wohl Symptom des Problems: verklemmten und latenen Antisemitismus auf Seiten bundesrepublikanischer Lichtgestalten zu thematisieren ist nicht en vogue und überhaupt: Über Tote nur Gutes.

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