Christoph Marx

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Die Vergangenheit so nah

Das ist die Darstellung des Buches von Florian Illies 1913

Florian Illies „1913 – Sommer eines Jahrhunderts“

Es war DAS Buchereignis  2013: Florian Illies 1913, der akribische wie intime Blick auf die Künstlerwelt unmittelbar, bevor im alten Europa die Lichter ausgingen. Ein Blick, der dem Leser von heute beängstigend bekannt vorkommt.

Der Digital Native in Berlin-Mitte und der heimatverbundene Landwirt in Berchtesgarden mögen heute in derselben Zeit leben. Sie wirken aber doch in ganz unterschiedlichen Welten. Bloch hat 1935 von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ als Kennzeichen der Moderne gesprochen, die es schwierig bis unmöglich mache, einen eindeutigen Bewusstseinszustand einer Gesellschaft zu definieren.

Wo ich schlagwortartig in meiner Weltgeschichte-Chronik Parallelen und Ungleichzeitigkeiten von großen Politikereignissen und kulturellen Entwicklungen aufzeige, nimmt der Großfeuilletonist Florian Illies gezielt das Jahr 1913 ins Visier, das, wie man heute weiß, eine Schneise durch die europäische Geschichte schlug. Es war das letzte Friedensjahr vor dem Großen Krieg, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, das die alteuropäische Welt untergehen ließ und ganze Gesellschaften in den Totalitarismus trieb.

Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Das collagenartige Buch ist ein stilistiches und intellektuelles Vergnügen. Mit leichter Feder, feiner Ironie und faktischer Sorgfalt durchmisst Illies Monat für Monat das Leben in der zeitgenössischen transnationalen Gelehrten- und Künstlerrepublik. Ohne dass die Zeitgenossen schon wissen konnten, die mehrheitlich die Welt in einem Zustand des rauschenden Fortschritts sahen, erkennt man im Nachhinein die fatalen Neuanfänge, die sich in vielen Bereichen konstituierten.

Hitler und Stalin

So lebten 1913 in Wien viele Herrschaften aus Politik und Kunst teilweise fast  Haus an Haus, die das  nächste Jahrhundert in vielerlei Hinsicht prägen sollten: Während Freud seinen Frust über seinen hassgeliebten Schüler Jung in produktiver Arbeit verarbeite, ließ sich der ewige österreichische Thronfolger Franz Ferdinand regelmäßig in seinem sündhaft modernen Automobil durch die Stadt chauffieren, wenn er sich wieder über Kaiser Franz Josef ärgerte. Ohne zu ahnen, dass gleichzeitig in einem Männerwohnheim ein herumstreunender Aquarellmaler namens Adolf Hitler die rassistische Hetzliteratur nachts in sich hineinsaugte und einige Straßen weiter ein wortkarger georgische Revolutionär im Verborgenen seine Schrift über die nationale Frage des Sozialismus ausbrütete. Er sollte wenig später den Kampfnamen Stalin annehmen. Immer wechseln sich kurze politische Schlaglichter mit oft amüsanten Anekdoten über die künstlerische Avantgarde in den Zentren in Europa und den USA ab.

Illies‘ Werk ist ein faszinierendes historisches Dokument von absoluter Gegenwärtigkeit, das was Wunderbares und einen fast unmöglichen Dreisprung schafft: Es informiert, klärt auf und unterhält.

Schön, wenn sich Publikumserfolg noch mit Qualität paart. Chapeau!

[stextbox id=“info“] Florian Illies,„1913 – Der Sommer des Jahrhunderts, Fischer Verlag 2013, 320 Seiten .[/stextbox] Print This PostEmail This Post Email This Post

1 Comment

  1. Wirklich ein tolles Buch

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