Friedrich Nietzsche zielte auf die Umwertung aller bisherigen Werte. Sein radikales Denken stellte die Moral grundsätzlich infrage. Formeln wie „Gott ist tot“ oder „Wille zur Macht“ haben Eingang in die heutige Alltagssprache gefunden.
Der Zusammenbruch hatte sich schon lange angedeutet. Frustriert über die Ignoranz der Fachwelt gegenüber seinen Schriften und körperlich geschwächt durch permanente Kopf- und Augenschmerzen verließ der Baseler Professor der klassischen Philologie bereits mit 35 Jahren den akademischen Lehrbetrieb und ging auf Wanderschaft. Er wohnte in Deutschland, Schweiz und Italien, eilte von Hotelzimmer zu Hotelzimmer, wo er fieberhaft an neuen Schriften arbeitete. Dabei verlor er zusehends die letzte Bodenhaftung. Sich selbst bezeichnete er als „letzten Philosophen“, als „letzten Mensch“. Ab Spätherbst 1888 trat der Wirklichkeitsverlust Nietzsches offen zu Tage. Er schmückte sein Zimmer für einen vermeintlichen Königsbesuch vor und schrieb manisch Briefe . „Lieber Herr Professor, zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott, aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwillen die Schaffung der Welt zu unterlassen“, teilte er am 5. Januar 1889 dem verduzten Basler Kunsthistoriker und langjährigen Freund Jakob Burckhardt mit. In Turin brach er schließend schluchzend in den Armen eines Pferdes zusammen und wurde in ärztliche Obhut gebracht. Nietzsche hatte seinen Verstand verloren. Über die genaue Krankheitsursache streiten bis heute die Mediziner – ein Hirntumor oder doch eher Folge einer Syphiliserkrankung? Er wurde in die Irrenanstalt eingeliefert und schließlich von seiner Mutter und Schwester bis zu seinem Tod zu Hause gepflegt. Von seinem einsetzenden Ruhm bekam Nietzsche nichts mehr mit. Denn je mehr Nietzsches Geist nachließ, umso heller strahlten die Produkte seines früheren Geistes. Noch zu Lebzeiten wurde eine erste Gesamtausgabe seines Werkes veröffentlicht. Der Beginn einer Weltkarriere, die Nietzsche zum vielleicht einflussreichsten Denker des 19. Jahrhunderts machte. Seine radikale umstürzlerische Philosophie, selbst ohne Systematik und vielfach politisch missverstanden bzw. missbraucht, dachte die großen Umbrüche in den Gesellschaften des 20. Jahrhunderts vor und wurde zum Wegbereiter postmoderner Denkansätze.
Freie Welt ohne Gott und Sklavenmoral
Nietzsche war der große Kritiker der zeitgenössischen bürgerlichen Gesellschaft. Mit seinem Nihilismus stellte er die religiösen, geistigen, moralischen und politischen Grundlagen des Abendlandes im Ganzen in Frage und wurde zum Propheten eines Menschen, der sich der Fesseln der überkommenden Moral entledigt, die absolute Sinnlosigkeit des eigenen Daseins begreift und so ein wirkliches freies Leben leben kann. Ein wirklicher freier Geist brauche die Einsicht in die absolute Nichtigkeit von allem, so Nietzsches Credo. Nicht nur dass der Mensch die objektive Wahrheit nicht erkennen kann, er war sicher: Es gibt gar keine Wahrheit. Auch die landläufige Moral wäre nichts als ein Trugbild. Seit jeher würden sittliche Grundsätze verkündet, ohne dass sich im wirklichen Leben daran gehalten würde. Ewige Glaubenssätze widersprächen dem ewigen Prozess von Werden und Vergehen im Leben und der Natur. Das Christentum war für Nietzsche, den Pastorensohn und studierten Theologen, der größte Feind und seine Überwindung die zentrale Bedingung für die Selbstbefreiung des Menschen, die selber auch kein Ziel, keinen Zweck hätte. „Diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, – wollt ihr einen Namen für diese Welt? Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem. Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nicht außerdem.“
Literat und Schöngeist
Was Nietzsches Schaffen jenseits seiner rebellischen und anarchistischen Inhalte so attraktiv und auch einzigartig machte, war sein betörender Schreibstil. Sind in der Regel die geistigen Ergüsse der Philosophen meist sehr abstrakt und kompliziert formuliert, so zeichnet sich Nietzsches Schaffen durch visionäre Sprachgewalt aus, die nicht selten höchste literarische Ansprüche erfüllt. Nietzsche war nicht zuletzt auch Schriftsteller und begabter Künstler. Nicht umsonst veröffentlichte er auch einige Gedichte und komponierte selbst zahlreiche Musikstücke. Musik war seine große Leidenschaft, ein Leben ohne ihr schlicht „ein Irrtum“.
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