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Die Internetrevolution entlässt ihre Kinder/ Boris15, shutterstock.com

Sind wir alle verrückt geworden? Nie gab es im Netz mehr Möglichkeiten, seine Meinung kundzutun. Nie eine größere Meinungsvielfalt. Und doch nimmt der Glaube zu, überall von dem „System“ und seinen Medien manipuliert zu werden. Ein Versuch, das Absurde zu verstehen.

“Das ist schön bei den Deutschen: Keiner ist so verrückt, dass er nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht.“ Heinrich Heine kannte 1831 das Internet noch nicht, als er in seinem satirischen Feuilleton “Die Harzreise” diese Zeilen niederschrieb. Wie wahr dieses Bonmot heute ist, kann jeder bestätigen, der sich regelmäßig auch nur oberflächlich durch die Untiefen des Netzes wühlt. Kein Hobby kann zu absurd, keine Theorie zu widersprüchlich, keine Meinung zu faktenfrei sein, als dass im Netz kein Echo zu vernehmen wäre, schnell keine Koalitionen eingegangen werden können. Auf dem virtuellen Bazar der Meinungen findet jeder seine „Speaker’s Corner“. Was für eine Wandlung.




Die frühere Machtlosigkeit der Leser
Ärgert sich früher jemand über einen Artikel, Journalisten oder ein Medium, musste er einen Leserbrief an ein Medienunternehmen schreiben. Ob dieser veröffentlicht wurde, wenn er nicht schon vorher einfach im Papierkorb landete, lag allein in der Macht der Meinungs-„Journaille“ (Karl Kraus), die auch der Herr über die Nachrichten war. Die Hierarchie war klar: Was der Leser weiß und liest, bestimmen die Zeitungsmacher.

Die neue Macht des Netzmenschen
Was für eine Freiheit hat dagegen heute der selbstbewusste Bürger oder die selbstbewusste Bürgerin? Mit nur geringem technischen und/oder finanziellen Aufwand kann er oder sie sich im Handumdrehen eine hübsche Plattform zusammenbasteln, sich über soziale Netzwerke interaktiv vernetzen und aktiv beteiligen. Kann sich in ganz neuen Dimensionen informieren, eine Meinung bilden und diese direkt ausdrücken, in Personalunion Medienproduzent wie Medienkonsument sein bzw. werden. Der technologische Strukturwandel der Öffentlichkeit durch das Internet sei gepriesen. Eine ganz neue Freiheit des Publizierens, die die Machtverhältnisse zunehmend verwischt, wenn nicht sogar revolutioniert.

Die Kraft der Utopie
Jürgen Habermas sprach 1981 von einem „herrschaftsfreien Diskurs“ als Voraussetzung für eine emanzipierte Gesellschaft von wirklichen Freien. Die zentralen Wesensmerkmale für einen solchen Diskurs unter Freien und Gleichen scheinen prinzipiell heute erfüllt: Die Kommunikationspartner sind gleichberechtigt; Sie haben die gleichen Möglichkeiten sich zu äußern, und die Kommunikation ist symmetrisch. Die materielle Basis von der großen kommunistischen Freiheitserzählung des Internets steht, sie steht immer noch – trotz aller Untergangspropheten und Entlarverspezialisten. Auch trotz der nicht zu verleugnenden Missbrauchmöglichkeiten durch „big data“. Was die Menschen vor den Rechnern anbelangt, bleibt Tatsache: Vielleicht in Ansätzen in Bereichen der Wissenschaft und Kultur, aber definitiv nicht im politisch-öffentlichen Raum ist das herrschaftsfreie Kommunikationsparadies ausgebrochen. Im Gegenteil. Je mehr Blogs und Netzwerke boomen und wachsen, desto mehr erstarken paradoxerweise ideologisch oft diffuse Kräfte wie die „Pediga“-Bewegung u.ä.  oder auch die AfD, die über die Macht der Systemmedien schwadronieren und sich im Großteil als Opfer verschwörerischer Großherrschaften fühlen? „Der Internetmensch ist frei geboren, doch fühlt er sich überall in Ketten“, mag man mit Jean-Jacques Rousseau konstatieren. Warum. Was ist da passiert, lautet die aktuelle politische Gretchenfrage.




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Was eigentlich Social Media, zeigt dieses Video

Ohnmachtsgefühle und Größenwahn

Zwei Faktoren will ich nennen, die in meinen Augen nicht dazu führen, dass im politischen Raum das „Internet kaputt ist“ (Sascha Lobo), aber dazu führen, dass das „Himmelreich auf Erden“ (Heinrich Heine) erst einmal wieder in die Zukunft vertagt werden muss.

    • Fragmentierung und „Weltlosigkeit“:
      Dass immer mehr Menschen auf der Welt miteinander kommunizieren können, heißt oft nicht, dass sie sich wirklich in ihrer Unterschiedlichkeit füreinander interessieren. Sie scheinen sich vor allem für Ihresgleichen zu interessieren, für diejenigen, die die eigenen Vorurteile, die eigenen Ressentiments und , wenn man es überspitzt formulieren will, die eigenen Traumata teilen. Was so in Gemeinschaft passiert, ist nicht Erweiterung des eigenen Horizonts, sondern nur die Zementierung des eigenen beschränkten Horizonts. Es entstehen viele hermetisch abgeschlossene Parallelöffentlichkeiten, die sich vor allem über ihre Kämpferqualitäten im Schützengraben gegen den Feind definieren. Kommunikationsmilitärische Abwehrlogik simuliert einen Diskurs. Für Hannah Arendt war der Weltbezug des einzelnen Menschen elementar, was sie als gemeinsame Auseinandersetzung über gemeinsame Dinge interpretierte. In dieser Terminologie findet trotz aller vordergründigen Öffentlichkeit Öffentlichkeit im eigentlichen Sinn immer weniger statt. Kennzeichnend vielmehr „die verlorene Beziehung zur gemeinsamen Welt“ (Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge, 782), „Weltlosigkeit“ in einer vernetzten globalisierten Welt. Der Rückzug ins Private zeigt sich nicht nur im Boom von Gartenmagazinen, sondern auch im virtuellen Mauernmauern.




  • Meinung und Wirklichkeit: 
    Mit dem Punkt der narzisstischen Weltlosigkeit scheint oft eine eigene Selbstüberschätzung bzw. Fehlwahrnehmung einherzugehen. Indem man sich nur mit eingeweihten Gleichgesinnten umgibt, wächst bei vielen der Glaube, im Recht zu sein. Als Belege für die eigene Sicht werden befreundete Blogs und Sites herangezogen, die ihrererseits aus den eigenen Sites zitieren. Ein System der gegenseitigen Aufschaukelung entsteht, das bizarrsten Verschwörungstheorien und Unappetlichem aus der politischen Hexenküche in der Eigenwahrnehmung Relevanz und Massenbasis suggeriert. Eine Art Scheinreise, der immer kleiner wird, je näher er der Wirklichkeit kommt. Leider interessieren sich gerade Menschen, die eine exklusive, oft auch extreme Position vertreten, nur wenig für Wahrheit und Wirklichkeit, weil sie glauben, diese bereits a priori zu kennen. Die Basis für totalitäre Denkmuster.

Vielleicht sind solche extremen Ausschläge ins Esoterische im Zug einer so viele gesellschaftlichen Bereiche durchwirbelnden Medienrevolution auch schlicht normal. Die permanenten und thematisch ständig wechselnden Hypes, Hysterien und Peinlichkeiten gar nicht Neues, sondern nur durch die Vernetzung für viele sichtbar geworden. Denn sicher war die Verteilung der Menschen in blöde und weniger blöde, in vernünftige und weniger vernünftige früher nicht wesentlich anders, wenn auch die Bühnenplätze für die Einfältigeren in der Regel besser verschlossen waren. Aber das kann ja schlecht ein Gütesiegel für eine demokratische Gesellschaft sein. Diese muss mit unterschiedlichen intellektuellen Grundausstattungen von Menschen qua definitione leben. Also alles gut? Alles schlecht auf jeden Fall nicht. Das Netz ermöglicht eine neue Form der Freiheit, mit der alle erst umzugehen lernen. Tatsächliches Neuland. Und Freiheit ist in erster Linie jenseits der offiziellen Sonntagsreden vor allem auch eine permanente Zumutung, impliziert immer die Möglichkeit der Widerlegung. Und das ist anstrengend, beschwerlich – das Gegenteil von bequem. Aber anders geht nicht. Stecker rausziehen gilt nicht. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran.



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Der Münchner Christoph Marx ist Publizist und Lektor und lebt in Berlin. Er arbeitet als Autor und Redakteur für viele namhafte Verlage und veröffentlichte bzw. verantwortete inhaltlich zahlreiche Werke, v.a. zu historisch-politischen, gesellschaftlichen, sportlichen und kulturellen Themen.Referenzliste unter Autor und Redakteur/Lektor.

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